Begegnung mit einer Schule

Kann man einer Schule „begegnen“? Man kann es, wenn man das im Sinn hat, was eine Schule ausmacht, das heißt: nicht nur die zweckdienliche Architektur eines Schulgebäudes, sondern auch das Leben Hunderter von Menschen, vielen jungen und einigen älteren, ihren Hoffnungen, Plänen, Träumen, ihrer Begegnung mit Kunst und Philosophie, ihren Erfolgen und Enttäuschungen, ihrer Erfahrung mit Gemeinschaft, ja Freundschaft. 

Als ich mit meiner Tochter einmal das reizende, kleine Kunstmuseum (Museum für Kindheits- und Jugendwerke bedeutender Künstler) am Kirchplatz in Halle besuchte, sahen wir dort eine schöne Marionette, und meine Tochter rief begeistert: „Die ist von Herrn Minssen!“ Minssen war Kunsterzieher am GYMNASIUM AM WALDHOF, als sie dort Schülerin war, und ich merkte ihr an: Sie begegnete in dem kleinen Kunstwerk ihrer Schule.

Und eine weitere Begegnung: Ich hatte eine russische Professorin aus Petersburg zu Besuch, und als sie in meinem Haus ein Relief an der Wand sah, sagte sie überrascht: „Das habe ich schon an einem Gebäude in der Stadt gesehen! Was ist das?“ Es ist das kleine Gipsmodell zu dem großen Relief aus Muschelkalkstein, das beim GYMNASIUM AM WALDHOF links vom Eingang in die Wand eingesetzt worden ist, als es noch eine reine Mädchenschule war und Bavink-Gymnasium hieß. 

Der Bildhauer Karlheinz Rhode-Jüchtern war 1951 damit beauftragt worden, ein künstlerisches „Abbild“ zu schaffen, das das Wesen dieser Schule nach außen deutlich macht. Er versuchte, es in drei Gestalten auszudrücken: Die obere Figur weist mit ihrer rechten Hand auf ein Buch hin, das sie vor Augen hat, Sinnbild des geistigen Lebens, konzentriert in Schrift und Buch. Die untere Figur betrachtet einen Kristall: Konzentration der Naturwissenschaften; und die Gestalt in der Mitte wendet sich ihren beiden Mitstudierenden zu, locker in ihrer Haltung und ernsthaft in ihrer Bereitschaft zuzuhören. Aber was hat dieses Modell in unserem Hause zu suchen? Der Bildhauer war mein Mann, und einige Jahre, nachdem er diese Arbeit abgeschlossen hatte, betraten seine drei Töchter unter dem beschriebenen Relief ihre Schule, ( Söhne gingen damals ins „Rats“). Und so begegnet unsere Familie dem GYMNASIUM AM WALDHOF täglich! Karlheinz Rhode-Jüchtern hat nur wenige Lebensjahre der Bildhauerei widmen können. Als verwundeter Soldat hat er im Lazarett mit dem Modellieren in Ton angefangen, nach Kriegsende, als die Universitäten erst einmal ihre Türen schlossen, hat er eine Steinmetzlehre und eine Bildhauerausbildung an der Werkkunstschule in Bielefeld abgeschlossen und von 1951 bis zu seinem frühen Tode 1957 viele Skulpturen geschaffen – meist in Muschelkalk –, die in unserer Stadt oder außerhalb zu finden sind. 

Auf dem Soldatengräberfeld des Sennefriedhofs erinnert sein Mahnmal an die jungen Männer, die ,gleich ihm, für den Krieg Hitlers missbraucht worden sind. 

An ihn persönlich erinnert ein Grabmal aus Muschelkalkstein, das ich als seine Frau für ihn entworfen habe. So wie Karlheinz Rhode-Jüchtern den Sinn von Grabsteinen aufgefasst hat und wie sie in alter Zeit auch von den Bildhauern gestaltet worden sind, zeigt dieser Gedenkstein die Lebenssituation des Verstorbenen zur Zeit seines Todes: die Mutter mit den vier Kindern und links unten im Bild ein Steinmetzwerkzeug, den hölzernen „Knüpfel“. Die Verbundenheit des studierten Historikers mit dem Geist und sinnvollen Brauchtum der alten Handwerker sollten sich in seinem Grabstein wiederfinden. 

Ursula Rhode-Jüchtern